Eastnor Castle: Schlammpige Verhältnisse

Land Rover testet seit einem halben Jahrhundert Prototypen und Vorserienmodelle in einer idyllischen Bilderbuchlandschaft. Wir feiern dieses Jubiläum mit einer Gatschpartie der historischen Kleinode.


Wohl steht das Häuschen im Grünen, aber es ist sehr, sehr viel Grün, und sehr, sehr viel Häuschen.

Mal angenommen, Sie hätten ein Häuschen im Grünen, und eines schönen Tages klingelt es an der Türe. Draußen steht ein gut gekleideter, ausgesucht höflicher Mann, der artig fragt, ob es Ihnen denn etwas ausmache, wenn er mit seinem Auto ein wenig in Ihrem Vorgarten auf und ab fährt. Wie würden Sie da reagieren? Eben. Und zugegeben, ganz genau so war es eh nicht, damals, anno 1961. Wohl steht das Häuschen im Grünen, aber es ist sehr, sehr viel Grün, und sehr, sehr viel Häuschen. „Burg“ oder „Schloss“ würde es wohl besser treffen. 1812-1820 wurde das Gebäude errichtet, in einem Stil, der ein paar Jahrhunderte mehr auch glaubhaft machen würde. Schlanke 97 Räume, allesamt beheizt mit Kaminen, die rund um die Uhr befeuert werden. Und der angefragte Spielplatz war ohnehin nicht der Rosengarten der Lordschaftsgattin, sondern das dicht bewaldete, zwanzig Quadratkilometer umfassende Jagdrevier in den Malvern Hills der British Midlands, nahe der Grenze zu Wales.

129: Der Radstand gab dem extra für unseren Besuch renovierten LKW-Prototypen seinen Namen. Er sollte das erste Modell sein, das in Eastnor auf Herz und Nieren getestet wurde. Und wie so oft spielte der Zufall eine gewichtige Rolle: Einer der Ingenieure des Lenkungsherstellers Burmann war zur Jagd geladen, und schwärmte tags darauf im Büro von den einzigartigen Offroad-Strecken, die er am Wochenende erleben durfte. Flugs machten sich die Landroverianer Geoff Miller und Bill Morris auf den Weg zu Major Ben Hervey-Bathurst, seines Zeichens nicht nur damaliger Eigentümer des Häuschens im Grünen, sondern auch begeisterter Geländewagenfahrer sowie Vorstand des Rover Midlands’ Owners Club – mit anderen Worten: Beste Voraussetzungen für eine fruchtbare Zusammenarbeit, die mit Major Bens Sohn James Hervey-Bathurst als Direktor des Anwesens und Oberhaupt der Familie in ihr mittlerweile schon sechstes Jahrzehnt geht.
Nur der 129er hat dann doch nicht so wirklich sein sollen: Ein erhoffter Auftrag der Ölsucher am Persischen Golf wollte sich nicht einstellen, und drum wurde der 129er nach ein paar Prototypen eingestellt. Nicht eingestellt wurde hingegen der Kontakt zu guten Freunden bei der Landesverteidigung – schließlich ist es ganz praktisch, wenn man Prototypen auf andere Erdteile ausfliegen muss. Und freilich ist es hilfreich, jemanden mit Panzerminen zu kennen, sollte die eine oder andere Erdbewegung im Schlossgarten nötig werden, um gewünschte Testbedingungen darstellen zu können.

Nur eine gute Stunde vom Stammwerk der geländegängigen Kronjuwelen in Solihull entfernt haben die Ingenieure von Land Rover nämlich mittlerweile gut 100 Kilometer Teststrecken durch den dunklen Tann geschlagen. Absurde Steilhänge, die nur mit Erfahrung im korrekten Umgang mit der Windensicherung zu überleben sind, schmierige Schlammfurten weit jenseits der im Prospekt verbrieften Wattiefe, ausgefahrene Spurrinnen im saftigen Torf, die eher Schützengräben gleichen denn Fahrbahnen, knackige Verschränkungspassagen, die Alpenklettergärten um nichts nachstehen, und viele andere Unfreundlichkeiten, die zu bezwingen seit einem halben Jahrhundert die Aufgabe der zu testenden Prototypen (und des mitunter in der Botanik zerschellenden Mitbewerbs) ist: Was sich in Eastnor bewährt, das funktioniert auch sonstwo. Freilich testen die Ingenieure weit jenseits des Polarkreises, ob das beheizte Lenkrad bei Minusvierzig ebenso flott jene behagliche Temperatur für Fahrers Finger herbeischafft, die unter dem großflächigen Panorama-Glasdach im brütend heißen Death Valley von der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage dargereicht werden muss. Man wetzt Vorserienmodelle über die Dünen Arabiens, so wie es bei Scheichs zur Zerstreuung gerne praktiziert wird, man inhaliert den fiesesten Staub Nordchinas im Dienste der Feinabstimmung sämtlicher Dichtgummis, und klettert in den Anden mit jämmerlicher Spritqualität in jenen sauerstoffarmen Regionen herum, die sogar Alpakas meiden, weil sie dort Schädelweh bekommen. Und nachdem Land Rover in der Zwischenzeit einem indischen Unternehmer gehört, wird auch zwischen Mumbai und Dehli getestet – vorzugsweise, wenn der Monsun den hinsichtlich Regen ohnehin nicht unbedarften Engländern zeigt, was er kann, wenn er will.

Was man an Eastnor aber wirklich hat und schätzt, illustriert am besten eine kurze Nachricht von unterwegs. 1972: Die Hardcore-Truppe des Werks testete gerade mit ein wenig Hilfe der Royal Air Force und der Army zwei Range Rover in Amerika, keine halben Sachen natürlich, also gleich von Alaska bis nach Feuerland. Dort, wo in Panama jede Straße endet und der Dschungel beginnt, dort liegt der Darien Gap. 160 Kilometer unwegsames Dickicht bis Kolumbien, von Wasserläufen durchzogen und dementsprechend sumpfig. 100 Tage für 100 Meilen, so die in britischen Maßeinheiten ganz einfache Rechnung. Klingt beschaulich. War es aber nicht. Schließlich musste man mitunter nicht nur winchen, was das Kabel hält, sondern auch die eine oder andere Behelfsbrücke bauen. Oder ein Floß, wenn das Bacherl ein bisschen breiter ist. Da trifft es sich gut, dass man eh dauernd alle Bäume abholzt, die frech im Weg stehen. Ach ja, ein bisschen Pyrotechnik war auch unumgänglich. Und damit man sich daheim keine großen Sorgen macht, telegrafierten die Range Rover-Piloten zwischendurch begeistert nach Hause: „Herrlich zu fahren hier. Kein Vergleich mit Eastnor!“

Im Lauf der Jahre haben die von Menschenhand erschaffenen Naturschönheiten in den Malvern Hills liebevolle Spitznamen abbekommen.

Im Lauf der Jahre haben die von Menschenhand erschaffenen Naturschönheiten in den Malvern Hills statt kryptischer Codes liebevolle Spitznamen abbekommen – kein Zweifel, dass sich beispielsweise am Gearbox Hill schon so manches Räderpaar die Zähne ausgebissen hat. Auch Range-Projektleiter Spen King und die Niederländische Königin sind Namensgeber von Schlüsselpassagen, im Dick’s Pit dürfte sich ein Kollege manifest eingebuddelt haben. Und wer vermutet, dass ein blaublütiger Gast aus dem nahen Osten durch ein fahrtechnisches Missgeschick in einer charakteristischen Landschaftsumgestaltung (Sie erinnern sich, die Panzermine) dem „King Hussein Bomb Hole“ zu seinem heutigen Namen verhalf, sieht ein wissend lächelndes Gesicht leicht nicken. Denn ohne jeden Zweifel ist strengste Diskretion eine genetisch tief verankerte Grundeigenschaft von „Mister Land Rover“ Roger Crathorne, seines Zeichens Leiter der technischen Kommunikation und wandelndes Lexikon der Markenhistorie. Dass er als oberster Gatschfahrlehrer des Unternehmens jede Menge seiner möglichen künftigen Könige zu deren allerhöchster Begeisterung durch den Dreck gejagt hat, das kann und will er nicht abstreiten. Schließlich gibt es Fotos, die ihn mit dem adoleszenten William Wales auf den Stiegen des Schlosses zeigen. Und freilich ist er ausschließlich voll des Lobes über die Fahrkünste der Kinder und Kindeskinder seiner Regentin.

Derartige Einschulungen in die gewissenhafte Bedienung der Automobile in Gefilden, in denen ein Auto eigentlich nichts mehr verloren hat, sind hier im Hauptquartier der Land Rover Experience seit 1989 Geschäftsmodell. 6500 Kunden wie Sie und ich können jedes Jahr Unterweisungen buchen, die jeden Teilnehmer unabhängig von dessen Vorkenntnissen gefahrlos an seine Grenzen – oder darüber hinaus – bringen. (Sollte die in der Nachbarschaft stationierte Anti-Terror-Spezialeinheit SAS zum Training vorbeischauen, geht es durchaus ein wenig rustikaler zu.) Auch die Teilnehmer der legendären Camel Trophy und der G4 Challenge durften in Eastnor zahlreiche Übungen in Demut, Geduld und Zuversicht verinnerlichen, noch bevor die große Reise so richtig begonnen hat.

Wer auf seinen Trainer hört, hat freilich nichts zu befürchten, wobei die strikt zu befolgenden Richtungsangaben nicht nur wegen der variablen Schwierigkeiten der Wegstrecke von Bedeutung sind: Eastnor Castle & Estate gilt als eines der feinsten Jagdreviere des Vereinigten Königreichs. Die Anzahl der am Anwesen anwesenden Fasane rangiert in sechsstelligen Größenordnungen. Zutraulich stolpert das Federvieh über jene holprigen Pfade, auf denen uns der Evoque sänftengleich befördert: Sie wissen, dass wir zu den Guten gehören. Auch Hasen, Füchsen sowie Rot- und Rehwild wird hierorts eifrig nachgestellt bzw. auf sie angesessen, und freilich sind mitunter einige nicht so zielgenaue Schützen unter den finanziell unempfindlichen Teilzeit-Grünröcken anzutreffen. Sämtliche Fahrschüler haben bis heute selbstverständlich ohne Schrotladung im Gesäß den Heimweg angetreten, wild im Gelände herumstreunende Paparazzi dürften hingegen auf ein gerüttelt Maß weniger Milde hoffen.

Darum erlegte ich bei einem meiner motorisierten Ausritte ins Gehölz ausgesprochen umsichtig eine Rotte der (vom Erscheinungstermin gerechnet) in wenigen Wochen vorzustellenden Range Rover Generation 2012. Schon ihr Urahn, 1970 der verblüfften Öffentlichkeit präsentiert, hat hierorts das Fahren gelernt. Die Entscheidung, ihn zu bauen, wurde drüben im Schloss getroffen, zwischen den lodernden Kaminen der 17 Meter hohen Great Hall, den im Schein der Feuer glänzenden Ritterrüstungen im Red Saloon und den prächtigen Ölgemälden, die jene Wände bedecken, die nicht mit Gobelins behängt sind. Weitreichende Entscheidungen treffen sich gut in dieser Atmosphäre. Vermutlich bei einer guten Schale Tee oder einem Glas vom traditionsreichen britischen Branntweiner. Und nebenan, am Billardtisch der Little Library, wurden sicher mehr Konstruktionsdetails erörtert als wohlbestallte Hochzeitspaare in der Schlosskapelle ihren Bund für einen Lebensabschnitt geschlossen haben. Eastnor ist die Heimat der Hill Descent Control. Der Geburtsort von Terrain Response. Oder, weniger elektronisch: Lange bevor die MangeRide-Dämpfer des Evoque im Unterholz gepeinigt wurden, hat man hier akribisch ermittelt, ob Schraubenfedern die bewährten Blattfedern ersetzen können …

Und während ich noch grüble, was diese Mauern wohl schon vom Fünfer-Disco oder dem Nachfolger des Defender wissen, sehe ich mit Schrecken fette, graue Stiefelabdrücke auf dem knallroten Teppich im Octagon Saloon. Doch Hausherr James Hervey-Bathurst hat nur ein gütiges Lächeln für meine gestammelten Entschuldigungen übrig – ein Lächeln, das mehr als 50 Jahre Erfahrung mit dreckigen Stiefeln auf roten Teppichen vermuten lässt.

Fotografie und Reportage für den Allradkatalog